Ein Paar Sneaker im Onlineshop bestellen, per App eine Überweisung tätigen, beim Amt digital einen Termin vereinbaren – was für viele Routine ist, kann für Menschen mit Beeinträchtigung eine echte Herausforderung sein. Digitale Barrierefreiheit ist für diese Nutzergruppe essentiell, um gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert. Nach den digitalen Services und Seiten im öffentlichen Sektor werden zukünftig auch barrierefreie Websites, Onlineshops, Apps & Co. für viele Unternehmen Pflicht.
In diesem Blogbeitrag geben wir Ihnen einen Überblick zum Thema digitale Barrierfreiheit – von der Definition über die gesetzliche Lage bis hin zur Umsetzung. Dabei gehen wir auch darauf ein, weshalb es sich für Unternehmen abseits von rechtlichen Verpflichtungen lohnt, ihre digitalen Lösungen barrierefrei zu gestalten.
Inhalt
Digitale Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Plattformen wie Websites, Apps und Online-Shops für alle Menschen zugänglich sind, unabhängig von körperlichen oder kognitiven Einschränkungen.
Eine Person mit Sehbehinderung sollte sich eine Website beispielsweise von einem Screenreader vorlesen lassen können. Ein potentieller Kunde mit motorischen Einschränkungen muss die Möglichkeit haben, sich vollständig per Tastatur durch den Onlineshop eines Anbieters zu navigieren. Neben solchen Funktionen tragen auch grundlegende Aspekte wie eine einfache Sprache, klare Strukturen (Layouts) und die Option Schriftgrößen anzupassen dazu bei, digitale Inhalte für alle verständlich und nutzbar zu machen.
Digitale Barrierefreiheit ist nicht nur für eine kleine Randgruppe relevant. So haben rund 16% der globalen Bevölkerung eine körperliche oder kognitive Beeinträchtigung. Das sind 1,3 Milliarden Menschen, denen der vollumfängliche Zugang zu digitalen Plattformen – ohne die notwendigen Maßnahmen – potenziell verwehrt bleibt.
Hinzu kommen Personen, die vorübergehend gehandicappt sind, beispielsweise durch Unfälle und Verletzungen. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich nach einem Sturz mit dem Fahrrad mehrere Finger gebrochen. Wie würde Ihre Interaktion am Smartpone nun aussehen? Auch Seniorinnen und Senioren treffen mit zunehmendem Alter bei der Bedienung von Smartphone und Co. immer häufiger auf Barrieren.
Die Zahlen sprechen für sich. Digitale Barrierefreiheit ist nicht nur ein Thema für Wenige. Denn wenn die Kriterien für barrierearme, bzw. barrierefreie Gestaltung und Umsetzung berücksichtigt werden, profitieren alle, auch Nutzer ohne akute Beeinträchtigung davon - Und damit langfristig auch das Unternehmen am anderen Ende des Produktes.
Verantwortliche auf Unternehmensseite stöhnen wahrscheinlich zunächst ein mal auf, wenn es um digitale Barrierefreiheit geht, und sehen lediglich den Mehraufwand, der auf sie zukommt. Dabei bringt die barrierefreie Gestaltung von Website, Onlineshop, Apps und anderen Plattformen Unternehmen handfeste Vorteile – über die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen hinaus.
Digitale Barrierefreiheit macht nicht nur Menschen mit Beeinträchtigung das Leben leichter. Optimierungen wie eine klare Navigation, gut lesbare Texte und verständliche Inhalte verbessern die Nutzererfahrung aller User. Eine Investition in Barrierefreiheit ist somit gleichzeitig eine Investition in die User Experience und kann sich direkt auf Conversion Rates und intendierte Ziele auswirken.
Einige Beispiele, wie auch Nutzer ohne Beeinträchtigung von Barrierefreiheit profitieren können:
Man sieht: Barrierefreiheit kommt allen Nutzern zugute und sorgt für eine rundum positive Customer Experience.
Mit dem Abbau digitaler Barrieren erreichen Sie mehr Menschen und erschließen neue Zielgruppen. Allein in Deutschland leben rund 10 Millionen Menschen mit einer Behinderung (Mikrozensus 2024). Auf EU-Ebene sind es rund 101 Millionen (Eurostat 2024). Das heißt: wer digitale Lösungen nicht barrierefrei gestaltet, vernachlässigt eine beachtliche Zahl potenzieller Kunden und verschenkt wertvolle Umsatzpotenziale!
Zudem profitieren auch ältere Menschen von einer klaren, nutzerfreundlichen Gestaltung. Schon heute ist jeder fünfte Deutsche über 65 Jahre alt – Tendenz steigend (Destatis 2024). Viele stoßen auf Hürden wie zu kleine Schriftgrößen, eine komplizierte, nicht intuitiv nutzbare Navigation, oder komplexe, nur schwer zu verstehende Inhalte. Indem Sie digitale Lösungen barrierefrei gestalten, erreichen Sie auch diese wachsende Gruppe älterer Nutzerinnen und Nutzer.
Google und Co. lieben barrierefreie Websites – viele Maßnahmen zur Barrierefreiheit decken sich nämlich mit den Best Practices für Suchmaschinenoptimierung (SEO). Indem Sie Ihre digitalen Angebote barrierefrei gestalten, sichern Sie sich eine bessere Sichtbarkeit und mehr organischen Traffic.
Einige Beispiele:
Zudem wäre es denkbar, dass Google nicht-barrierefreie Inhalte zukünftig abstraft – ähnlich, wie die Suchmachine seit einigen Jahren Seiten abstraft, die nicht mobil-optimiert sind ("Mobile First"). Gerade die Tatsache, dass digitale Barrierefreiheit für viele Organisationen und Unternehmen verpflichtend ist, könnte Google dazu bewegen, sie zum Rankingfaktor zu machen. Wer schon jetzt handelt, ist auf der sicheren Seite.
Unternehmen, die digitale Angebote barrierefrei gestalten, setzen ein Zeichen für Inklusion und Vielfalt – und stärken gleichzeitig ihr Image. So ist Diversität längst kein Trendthema mehr, sondern für viele Menschen ein Kriterium bei der Kaufentscheidung oder der Wahl des Arbeitgebers.
Das belegen auch Studien: Laut einer Umfrage von PwC beeinflussen soziale Faktoren wie Diversität, Inklusion und Menschenrechte die Kaufentscheidung von 40% der Verbraucher (PwC 2023). Eine weitere Studie zeigte, dass ein inklusives Arbeitsumfeld für zwei Drittel der Bewerber eine wichtige Rolle bei der Jobsuche spielt (Bain & Company 2022). Wer Barrierefreiheit und Vielfalt aktiv fördert, schafft also nicht nur bessere digitale Erlebnisse, sondern steigert gleichzeitig die Attraktivität seiner Marke – sowohl für Kunden als auch für Bewerber.
Für den öffentlichen Sektor in Deutschland ist digitale Barrierefreiheit nichts Neues – ab Juni 2025 wird sie nun auch für private Unternehmen gesetzlich verpflichtend. Die wichtigsten Regelungen zum Thema sind
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) soll die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gewährleisten. Es bildet die übergeordnete rechtliche Grundlage für viele weitere Regelungen zur Barrierefreiheit, einschließlich der BITV und des BFSG.
Das BGG gilt in erster Linie für öffentliche Stellen des Bundes, verpflichtet diese jedoch nicht nur zu barrierefreier digitaler Kommunikation, sondern auch zu baulicher und technischer Barrierefreiheit. Besonders relevant für digitale Barrierefreiheit ist der § 12d BGG, der die barrierefreie Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen vorschreibt und damit die Grundlage für die BITV 2.0 bildet.
Detaillierte Anforderungen für die Gestaltung barrierefreier Websites, Apps, Onlineshops und Co. finden sich in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Dabei handelt es sich um den international anerkannten technischen Standards für digitale Barrierefreiheit, an dem sich auch die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz orientieren.
In seiner aktuellen Fassung definiert die WCAG rund 80 Richtlinien für digitale Barrierefreiheit, unterteilt in die vier Bereiche Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Zudem gibt es drei Konformitätsstufen von A (Mindestanforderungen) bis hin zu AAA (höchste Anforderungen). Die mittlere Stufe AA stellt den gesetzlich verpflichtenden Standard für digitale Barrierefreiheit dar.
Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) konkretisiert die Vorgaben des BGG für den digitalen Bereich. Sie setzt die EU-Richtlinie 2016/2102 in Deutschland um und verpflichtet Bundes- und Landesbehörden sowie öffentliche Stellen dazu, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten.
Zu den Anforderungen der BITV gehören unter anderem:
Öffentliche Stellen müssen zudem eine Erklärung zur Barrierefreiheit auf ihren Webseiten bereitstellen und einen Mechanismus zur Meldung von Barrieren anbieten. Die BITV geht in einigen Punkten sogar über die internationalen WCAG-Standards hinaus.
Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) werden erstmals private Unternehmen zur digitalen Barrierefreiheit verpflichtet. Es setzt die EU-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act) in deutsches Recht um und tritt am 28. Juni 2025 in Kraft. Wer die Anforderungen bis dahin nicht erfüllt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen – so sind Bußgelder in Höhe von bis zu 100.000 Euro möglich.
Das BFSG gilt für eine Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen, darunter:
Das Gesetz verpflichtet nahezu alle Unternehmen, die diese Produkte oder Dienstleistungen anbieten und sich an Verbraucher richten (B2C). B2B-Unternehmen sind in der Regel nicht vom BFSG betroffen, doch es gibt Ausnahmen. Ob Ihre Produkte oder Dienstleistungen unter das Gesetz fallen, sollten Sie in jedem Fall anwaltlich klären lassen, um empfindliche Strafen zu vermeiden.
Wenn Sie an digitale Barrierefreiheit denken, fallen Ihnen vielleicht als erstes Alt-Texte für Bilder ein oder Untertitel für Videos. Entsprechende Maßnahmen setzen viele Marketer schon aus SEO-Gründen oder für eine bessere Nutzererfahrung um. Allerdings umfasst digitale Barrierefreiheit noch einiges mehr.
Richtilien für die barrierefreie Gestaltung von Websites, Apps, Onlineshops und anderen digitalen Plattformen finden sich, wie hier erwähnt, in den Web Content Accessibility Guidelines. Die rund 80 Kriterien lassen sich den folgenden vier Grundprinzipien digitaler Barrierefreiheit zuordnen.
Digitale Inhalte müssen für alle Nutzer erfassbar sein – unabhängig von ihren sensorischen Fähigkeiten. Dies bedeutet, dass Texte mit ausreichendem Kontrast gestaltet, Alternativtexte für Bilder bereitgestellt und audiovisuelle Inhalte mit Untertiteln oder Transkripten versehen werden. Strukturierte Inhalte helfen, Informationen klar zu vermitteln, sodass Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen Inhalte ebenso wahrnehmen können wie Nutzer ohne Beeinträchtigung.
Jede Plattform sollte so gestaltet sein, dass sie unabhängig von motorischen oder kognitiven Einschränkungen bedient werden kann. Dazu gehört eine Navigation, die sowohl per Maus, Tastatur als auch mit assistiven Technologien nutzbar ist. Nutzer dürfen nicht durch Zeitbeschränkungen unter Druck gesetzt werden, und interaktive Elemente sollten vorhersehbar sowie leicht zugänglich sein, um eine intuitive Nutzung für alle zu gewährleisten.
Digitale Inhalte müssen klar, strukturiert und einfach verständlich sein. Dies betrifft nicht nur die Sprache, sondern auch eine logische Navigation sowie eindeutiges Nutzungsfeedback, beispielsweise in Form von Fehlermeldungen und Bedienhinweisen. Texte sollten in einfacher Sprache verfasst und Fachbegriffe erklärt werden. So wird sichergestellt, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder geringeren Sprachkenntnissen problemlos auf die gewünschten Informationen zugreifen können.
Digitale Inhalte müssen mit verschiedenen Geräten, Browsern und assistiven Technologien kompatibel sein. Dies bedeutet, dass der Code sauber und standardkonform sein sollte, um sowohl auf aktuellen als auch zukünftigen Systemen problemlos zu funktionieren. Eine technisch robuste Gestaltung stellt sicher, dass Nutzer unabhängig von ihrer verwendeten Technologie immer auf die Inhalte zugreifen können, ohne auf Barrieren zu stoßen.
Allgemein gelten die Richtlinien für digitale Barrierefreiheit – von ausrechenden Kontrasten bis hin zu einer verständlichen Sprache – für alle digitalen Plattformen gleichermaßen. Lassen Sie uns einige Beispiele genauer betrachten, um die Anforderungen zu verdeutlichen
Tipp: Einblicke in die barrierefreie Gestaltung eines Webportals erhalten Sie in unserem Use Case mit dem Landschaftsverband Rheinland.
Tipp: In unserem Use Case zur berufswahlapp erfahren Sie mehr über die Entwicklung barrierefreier mobiler Anwendungen.
Onlineshops bieten Nutzern viele Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise durch Funktionen wie das Speichern und Verwalten von Produkten. Das Hinzufügen oder Entfernen von Artikeln im Warenkorb sollte nicht nur visuell signalisiert werden, sondern auch von Screenreadern erläutert und durch auditive Hinweise gekennzeichnet werden. Besonders Drag-and-Drop-Funktionen zur Verwaltung von Wunschlisten benötigen alternative Bedienungsmöglichkeiten.
Wie alle Digitalprojekte muss auch die Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit systematisch angegangen werden. Dabei hat sich folgendes Vorgehen bewährt.
Der erste Schritt sollte immer eine gründliche Bestandsaufnahme sein, in der Sie prüfen, inwiefern bestehende digitale Lösungen bereits barrierefrei sind und wo noch Verbesserungsbedarf besteht. Hierbei kommen Tools wie WCAG-Checker oder manuelle Tests mit Screenreadern zum Einsatz. Am Ende steht ein detaillierter Bericht, der den Status quo und potenzielle Schwachstellen festhält.
Nach der Analyse folgt die strategische Planung. Sie definieren Ziele, priorisieren die notwendigen Maßnahmen, legen Verantwortlichkeiten fest und schaffen eine Roadmap für das weitere Vorgehen. User Research und Accessibility Guidelines sind essentiell dabei, um zu gewährleisten, dass Ihre Lösungen auch wirklich den Bedürfnissen aller Nutzergruppen entsprechen.
In dieser Phase setzen Sie die notwendigen Verbesserungen in die Praxis um. Web Development Teams nehmen technologische Anpassungen vor und implementieren die Vorgaben hinsichtlich UX und Design; Grafiker überarbeiten ggf. Bilder, Videos sowie Dokumente; und Marketer pflegen neue Assets ein, redigieren Texte sowie Alttexte.
Sind die notwendigen Anpassungen vorgenommen, geht es ans Testing: Für ein schnelles Aufspüren von technischen Mängeln sind automatische Tests mit Accessibility-Scannern nützlich. Diese reichen aber keinesfalls aus! Nur manuelle Prüfungen – im besten Fall mit echten Nutzergruppen – gewährleisten, dass Ihre Lösung wirklich barrierefrei ist. Wenn alle Probleme behoben sind, kann die Plattform live gehen.
Digitale Barrierefreiheit ist kein einmaliges Projekt, sondern ein fortlaufender Prozess. Regelmäßige Audits und kontinuierliche Optimierungen und Anpassungen sorgen dafür, dass neue Funktionen und Inhalte die Barrierefreiheit Ihres digitalen Produktes nicht beeinträchtigen, sondern zu dieser weiter beitragen. Schulungen für Entwickler, Designer und Content-Manager stärken zudem das Bewusstsein und befähigen Teams, Barrierefreiheit dauerhaft in ihre Arbeit zu integrieren. So bleiben Website, Onlineshop, App und Co. stets zugänglich.
Digitale Barrierefreiheit ist mehr als ein neues Gesetz oder eine zusätzliche Belastung für Unternehmen und Betreiber digitaler Plattformen. Es ist ein großer Schritt hin zu einer inklusiveren, gerechteren Welt – und bietet gleichzeitig Vorteile für alle Nutzergruppen sowie für Unternehmen. Einige der wichtigsten Erkenntnisse im Überblick: